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Clara Zetkin - Reichstagsrede von 1932

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Aus Anlass des Republikgeburtstages möchten wir euch die Reichstagsrede von Clara Zetkin zum lesen geben, die sie als Alterspräsidentin zur Eröffnung des Reichstages am 30. August 1932 gehalten hatte. Wir denken, sie passt sehr gut in unsere Zeit, da sie besonders heute wieder sehr an Aktualität gewonnen hat.

Wer möchte, kann diese auch im Internet als MP3 sich anhören:

 

 

Clara Zetkin

Rede als Alterspräsidentin bei der Eröffnung des Reichstags am 30. August 1932

 

 

Meine Damen und Herren!

Der Reichstag tritt in einer Situation zusammen, in der die Krise des zusammenbrechenden Kapitalismus die breitesten werktätigen Massen Deutschlands mit einem Hagel furchtbarster Leiden überschüttet. Zu den Millionen Arbeitslosen, die mit den Bettelpfennigen der sozialen Unterstützung oder auch ohne sie hungern, werden im Herbst und im Winter neue Millionen stoßen. Verschärfter Hunger ist auch das Schicksal aller anderen sozial Hilfsbedürftigen. Die noch Beschäftigten können bei ihrem niedrigen Verdienst die durch die Rationalisierung aufs äußerste ausgepreßte Muskel- und Nervenkraft nicht ersetzen, geschweige denn kulturelle Bedürfnisse befriedigen. Der weitere Abbau des Tarifrechts und des Schlichtungswesens wird die Entbehrungslöhne noch tiefer senken. Wachsende Scharen von Handwerkern und Kleingewerbetreibenden, von Klein- und Mittelbauern versinken verzweifelnd in Elendstiefen. Der Niedergang der Wirtschaft, das Zusammenschrumpfen der Aufwendungen für Kulturzwecke vernichten die wirtschaftlichen Grundlagen für die Existenz der geistig Schaffenden und verengen fortschreitend das Betätigungsfeld für ihre Kenntnisse und Kräfte. Der im Osten entfesselte Weltbrand, der vom Westen her kräftig geschürt wird, und dessen Flammenmeer auch die Sowjetunion und ihren sozialistischen Aufbau vertilgen soll, würde auch Deutschland mit Schrecken und Greueln überhäufen, die das Mord- und Vernichtungswerk des letzten Weltkrieges in den Schatten stellen.

Die politische Macht hat zur Stunde in Deutschland ein Präsidialkabinett an sich gerissen, das unter Ausschaltung des Reichstags gebildet wurde und das der Handlanger des vertrusteten Monopolkapitals und des Großagrariertums und dessen treibende Kraft die Reichtwehrgeneralität ist.

Trotz der Allmacht des Präsidialkabinetts hat es gegenüber allen innen- und außenpolitischen Aufgaben der Stunde gänzlich versagt. Seine Innenpolitik charakterisiert sich genau wie die des vorausgegangenen durch die Notverordnungen, Notverordnungen im ureigensten Sinne des Wortes; denn sie verordnen Not und steigern die schon vorhandene Not. Gleichzeitig zertritt dieses Kabinett die Rechte der Massen, gegen die Not zu kämpfen. Sozial Hilfsbedürftige und Hilfsberechtigte erblickt die Regierung nur in verschuldeten Großagrariern, krachenden Industriellen, Bankgewaltigen, Reedern und gewissenlosen Spekulanten und Schiebern. Ihre Steuer-, Zoll- und Handelspolitik nimmt breiten Schichten des schaffenden Volks, um kleine Gruppen von Interessenten zu beschenken, und verschlimmert die Krise durch weitere Einschränkung des Konsums, des Imports und Exports.

Ebenso schlägt ihre Außenpolitik den Interessen des schaffenden Volks ins Gesicht. Sie wird geleitet von imperialistischen Gelüsten, bringt Deutschland in ziellosem dilettantischem Schwanken zwischen plumper Anbiederung und Säbelrasseln in immer tiefere Abhängigkeit von den Großmächten des Versailler Vertrags und schädigt die Beziehungen zur Sowjetunion, dem Staat, der durch seine ehrliche Friedenspolitik und seinen wirtschaftlichen Aufstieg ein Rückhalt für die deutsche werktätige Bevölkerung ist.

Schwerstens belastet ist das Schuldkonto des Präsidialkabinetts durch die Morde der letzten Wochen, für die es die volle Verantwortung trägt durch die Aufhebung des Uniformverbots für die nationalsozialistischen Sturmabteilungen und durch die offene Begönnerung der faschistischen Bürgerkriegstruppen. Vergebens sucht es über seine politische und moralische Schuld hinwegzutäuschen durch Auseinandersetzungen mit ihren Bundesgenossen über die Verteilung der Macht im Staate; das vergossene Blut kittet es für ewig mit den faschistischen Mördern zusammen.

Die Ohnmacht des Reichstags und die Allmacht des Präsidialkabinetts sind der Ausdruck des Verfalls des bürgerlichen Liberalismus, der zwangsläufig den Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise begleitet. Dieser Verfall wirkt sich auch voll aus in der reformistischen Sozialdemokratie, die sich in Theorie und Praxis auf den morschen Boden der bürgerlichen Gesellschaftsordnung stellt. Die Politik der Papen-Schleicher-Regierung ist nichts anderes als die unverschleierte Fortsetzung der Politik der von den Sozialdemokraten tolerierten Brüning-Regierung, wie dieser ihrerseits die Koalitionspolitik der Sozialdemokratie als Schrittmachern vorausgegangen ist.

Die Politik des „kleineren Übels“ stärkte das Machtbewußtsein der reaktionären Gewalten und sollte und soll noch das größte aller Übel erzeugen, die Massen an Passivität zu gewöhnen. Diese sollen darauf verzichten, ihre volle Macht außerhalb des Parlaments einzusetzen. Damit wird auch die Bedeutung des Parlaments für den Klassenkampf des Proletariats gemindert. Wenn heute das Parlament innerhalb bestimmter Grenzen für den Kampf der Werktätigen ausgenutzt werden kann, so nur dann, wenn es seine Stütze hat an kraftvollen Aktionen der Massen außerhalb seiner Mauern.

Ehe der Reichstag Stellung nehmen kann zu Einzelaufgaben der Stunde, muß er seine zentrale Pflicht erkannt und erfüllt haben: Sturz der Reichsregierung, die den Reichstag durch Verfassungsbruch vollständig zu beseitigen versucht. Anklagen müßte der Reichstag auch erheben gegen den Reichspräsidenten und die Reichsminister wegen Verfassungsbruchs und noch weiterer geplanter Verfassungsbrüche vor dem Staatsgerichtshof zu Leipzig. Doch eine Anklage vor dieser hohen Instanz hieße den Teufel bei seiner Großmutter zu verklagen.

Selbstverständlich kann nicht einfach durch Parlamentsbeschluß die Gewalt einer Regierung gebrochen werden, die sich stützt auf die Reichswehr und alle anderen Machtmittel des bürgerlichen Staates, auf den Terror der Faschisten, die Feigheit des bürgerlichen Liberalismus und die Passivität großer Teile der Werktätigen. Der Sturz der Regierung durch den Reichstag kann nur das Signal sein für den Aufmarsch und die Machtentfaltung der breitesten Massen außerhalb des Parlaments, um in dem Kampf das ganze Gewicht der wirtschaftlichen und sozialen Leistung der Schaffenden und auch die Wucht der großen Zahl einzusetzen.

In diesem Kampf gilt es zunächst und vor allem, den Faschismus niederzuringen, der mit Blut und Eisen alle klassenmäßigen Lebensäußerungen der Werktätigen vernichten soll, in der klaren Erkenntnis unserer Feinde, daß die Stärke des Proletariats am allerwenigsten von Parlamentssitzen abhängt, vielmehr verankert ist in seinen politischen, gewerkschaftlichen und kulturellen Organisationen.

Belgien zeigt den Werktätigen, daß der Massenstreik sogar in Zeiten größter Wirtschaftskrise seine Kraft bewährt, vorausgesetzt, daß hinter dem Gebrauch dieser Waffe die Entschlossenheit und Opferfreudigkeit der Massen steht, vor keiner Weiterung des Kampfes zurückzuschrecken und die Gewalt der Feinde mit Gewalt zurückzuschlagen. Jedoch die außerparlamentarische Machtentfaltung des werktätigen Volkes darf sich nicht auf den Sturz einer verfassungswidrigen Regierung beschränken; sie muß über dieses Augenblicksziel hinaus gerichtet sein auf den Stutz des bürgerlichen Staates und seiner Grundlage, der kapitalistischen Wirtschaft.

Alle Versuche, auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschaft die Krise zu mildern, geschweige denn zu beheben, können das Unheil nur verschärfen. Staatliche Eingriffe versagten; denn der bürgerliche Staat hat nicht die Wirtschaft, sondern umgekehrt die kapitalistische Wirtschaft hat den Staat. Als Machtapparat der Besitzenden kann dieser sich nur zu deren Vorteil einsetzen auf Kosten der produzierenden und konsumierenden breiten schaffenden Volksmassen. Eine Planwirtschaft auf dem Boden des Kapitalismus ist ein Widerspruch in sich. Die Versuche dazu werden immer wieder vereitelt durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Planmäßigkeit des Wirtschaftens ist nur möglich bei der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Der Weg zur Überwindung wirtschaftlicher Krisen und aller drohenden imperialistischen Kriegsgefahren ist einzig und allein die proletarische Revolution, die das Privateigentum an den Produktionsmitteln abschafft und damit die Planmäßigkeit des Wirtschaftens verbürgt.

Der große weltgeschichtliche Beweis dafür ist die russische Revolution. Sie hat gezeigt, daß den Schaffenden die Kraft eigen ist, alle ihre Feinde niederzuwerfen und zusammen mit dem Kapitalismus im eigenen Lande auch die imperialistischen Raubgewalten zurückzuwerfen und Sklavenverträge wie den Versailler Vertrag zu zerreißen

Der Sowjetstaat erhärtet auch, daß die Werktätigen die Reife besitzen, eine neue Wirtschaftsordnung aufzubauen, in der eine wirtschaftliche Höherentwicklung der Gesellschaft ohne verwüstende Krisen erfolgen kann, weil eben die Ursache der anarchischen Produktionsweise vernichtet ist, das Privateigentum an den großen Produktionsmitteln.

Der Kampf der werktätigen Massen gegen die zerfleischenden Nöte der Gegenwart ist zugleich der Kampf für ihre volle Befreiung. Er ist ein Kampf gegen den versklavenden und ausbeutenden Kapitalismus und für den erlösenden, den befreienden Sozialismus. Diesem leuchtenden Ziel muß der Blick der Massen unverrückt zugewandt sein, nicht umnebelt durch Illusionen über die befreiende Demokratie und nicht zurückgeschreckt durch die brutalen Gewalten des Kapitalismus, der seine Rettung durch neues Weltvölkergemetzel und faschistische Bürgerkriegsmorde erstrebt. Das Gebot der Stunde ist die Einheitsfront aller Werktätigen, um den Faschismus zurückzuwerfen, um damit den Versklavten und Ausgebeuteten die Kraft und die Macht ihrer Organisationen zu erhalten, ja sogar ihr physisches Leben. Vor dieser zwingenden geschichtlichen Notwendigkeit müssen alle fesselnden und trennenden politischen, gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen Einstellungen zurücktreten. Alle Bedrohten, alle Leidenden, alle Befreiungssehnsüchtigen in die Einheitsfront gegen den Faschismus und seine Beauftragten in der Regierung! Die Selbstbehauptung der Werktätigen gegen den Faschismus ist die nächste unerläßliche Voraussetzung für die Einheitsfront im Kampfe gegen Krise, imperialistische Kriege und ihre Ursache, die kapitalistische Produktionsweise. Die Auflehnung von Millionen werktätiger Männer und Frauen in Deutschland gegen Hunger, Entrechtung, faschistischen Mord und imperialistische Kriege ist ein Ausdruck der unzerstörbaren Schicksalsgemeinschaft der Schaffenden der ganzen Welt. Diese internationale Schicksalsgemeinschaft muß ehern geschmiedete Kampfesgemeinschaft der Werktätigen in allen Herrschaftsgebieten des Kapitalismus werden, eine Kampfesgemeinschaft, die sie mit den vorausgestürmten befreiten Brüdern und Schwestern in der Sowjetunion verbindet. Streiks und Aufstände in den verschiedensten Ländern sind lodernde Flammenzeichen, die den Kämpfenden in Deutschland zeigen, daß sie nicht allein stehen. Überall beginnen die Enterbten und Niedergetretenen zur Eroberung der Macht vorzustoßen. In der auch in Deutschland sich formierenden Einheitsfront der Werktätigen dürfen die Millionen Frauen nicht fehlen, die noch immer Ketten der Geschlechtssklaverei und dadurch härtester Klassensklaverei ausgeliefert sind. In den vordersten Reihen muß die Jugend kämpfen, die freies Emporblühen und Ausreifen ihrer Kräfte heischt, aber heute keine andere Aussicht hat als den Kadavergehorsam und die Ausbeutung in den Kolonnen der Arbeitsdienstpflichtigen. In die Einheitsfront gehören auch alle geistig Schaffenden, deren Können und Wollen, den Wohlstand und die Kultur der Gesellschaft zu mehren, heute in der bürgerlichen Ordnung sich nicht mehr auszuwirken vermag.

In die kämpfende Einheitsfront alle, die als Lohn- und Gehaltsangehörige oder sonstwie Tributpflichtige des Kapitals zugleich Erhalter und Opfer des Kapitalismus sind!

Ich eröffne den Reichstag in Erfüllung meiner Pflicht als Alterspräsidentin und in der Hoffnung, trotz meiner jetzigen Invalidität das Glück zu erleben, als Alterspräsidentin den ersten Rätekongreß Sowjetdeutschlands zu eröffnen.

 

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